Freunde

  Auf einen Kaffee mit Julius Herzog

ehemaliger Geschäftsführer der Ostheimer Molkerei*


Sicher kennen viele von Ihnen den Titel des schwedischen Bestsellerromans von Jonas Jonasson, „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“. Auch wenn die durchschnittliche Lebenserwartung eines Menschen weiter steigt und Rentner heutzutage ungleich agiler und mobiler sind als vor 50 Jahren, spricht man einem Hundertjährigen nicht unbedingt die physische Eigenschaft zu, mal eben spontan irgendwo aus dem Fenster zu steigen und zu verschwinden, um dann ein spektakuläres Road- Movie- Abenteuer zu erleben. Dazu wäre auch mein heutiger Interviewgast nicht mehr imstande, aber immerhin ist er mit seinem aus Schweden importierten Spezial-Rollator (mit extra großen Rädern) noch ziemlich behände auf dem asphaltierten Ostheimer Bahndamm unterwegs. Jeden Tag 200 Meter hin und 200 Meter wieder zurück, manchmal auch zweimal am Tag. Anders als der Protagonist des schwedischen Bestseller-Buches lebt er allerdings nicht in einem Seniorenheim, sondern mit seiner Frau und seinem Sohn auf der östlichen Seite der Bahnhofstraße, direkt gegenüber seines früheren Arbeitsplatzes, der Ostheimer Molkerei, heute Firmensitz des Unternehmens LINK. Und noch etwas unterscheidet den hundertjährigen Ostheimer von seinem fiktiven schwedischen Pendant: Er ist vor den Feierlichkeiten zu seinem 100. Geburtstag nicht davon gelaufen, sondern hat im vergangenen Herbst in der Gaststätte „Zur Haltestelle“ zahlreiche Glück- und Gesundheitswünsche in Empfang genommen. Heute ist er für mich der Hundertjährige, der sich in seinen Wohnzimmersessel setzt und einem Fünfzigjährigen aus seinem Leben erzählt. Und dann mit dem Satz beginnt: „Ich habe nicht viel zu berichten.“ Auf einem Kaffee mit Julius Herzog.


Herr Herzog, wo genau sind Sie geboren und aufgewachsen?


Julius Herzog:

 Ich bin am 26.9.1919, als sechstes von insgesamt sieben Kindern in Essen bei Oldenburg geboren und somit ein echtes „Nordlicht“. Ich habe dort eine wirklich gute Kindheit und Jugendzeit verbracht. Ich ging damals in eine einstufige Volksschulklasse, was den Vorteil hatte, dass ich schon als ganz junger Schüler beim Stoff der älteren zuhören und dadurch auch lernen konnte. Ich habe als Kind die Dampfmaschine erklärt bekommen und kurz vor der Rente erlebt, wie die ersten Computer in die Betriebe und die privaten Haushalte Einzug hielten. Als ich 1934 die Schule beendete, bekam ich eine Ausbildungsstelle als Molkereilehrling in der bei uns im Ort ansässigen privaten Molkerei. Ab dann hieß es arbeiten von morgens um sieben bis abends um sieben, abzüglich der Mittagsstunde. An Sonn- und Feiertagen jeweils bis mittags, denn die Kühe mussten ja auch an diesen Tagen gemolken und versorgt werden. Nach drei Lehrjahren ging ich dann auf die Molkereischule nach Oldenburg und schloss diese Ausbildung mit einem Diplom ab.


Ging es danach wieder zurück in die heimische Molkerei?


Julius Herzog:

Nein, ganz bewusst nicht. Ich wollte unbedingt andere Molkereien und deren Arbeitsprozesse kennenlernen und dabei auch andere Regionen entdecken. So habe ich per Annonce in einer Molkereifachzeitschrift eine Arbeitsstelle gesucht und bekam tatsächlich etliche Angebote aus ganz Deutschland. Im Alter von 18 Jahren sagte ich dann der Heimat ade und entschied mich für einen genossenschaftlichen Molkereibetrieb im Ort Hachenburg im Westerwald. Dort erwartete mich ein noch recht junger Betrieb von insgesamt 50 Mitarbeitern, nur zehn davon waren echte Fachkräfte. Unter denen gab es ein hohes Kommen und Gehen, was mir wiederum die Gelegenheit bot, in kurzer Zeit in allen unterschiedlichen Bereichen des Betriebes Erfahrungen zu sammeln.


Dabei habe ich mich – so sagte man mir jedenfalls – nicht allzu dumm angestellt. Nach eineinhalb lehrreichen Jahren dort beschloss ich aber, vor meiner drei Monate später anstehenden Militärzeit, noch eine weitere Molkerei kennenlernen zu wollen. Also annoncierte ich wieder und hatte etwa 30 Angebote aus ganz Deutschland. Zwei davon zog ich in die engere Wahl: Ostheim, mit dem Schwerpunkt Betrieb und Cottbus mit dem Schwerpunkt Büro

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Warum fiel die Entscheidung für Ostheim?


Julius Herzog:

Unter anderem auch, weil der Weg nach Hause in meine alte Heimat von Ostheim aus deutlich kürzer war. Im Juli 1939 bin ich dann hier angekommen und stand an einem Sonntagnachmittag mit meinen Habseligkeiten vor der Molkerei. Es war niemand zu sehen und auch der erste optische Eindruck war ernüchternd: „Mensch, was für eine Spelunke“, dachte ich. Kein Wunder, kam ich doch von einem vergleichsweise jungen und modernen Molkereibetrieb. Sofort kam mir der Gedanke, nach Cottbus durchzufahren, allerdings gab es am Sonntagnachmittag keinen Zug mehr, in den ich hätte einsteigen können. Hätte einer bereitgestanden, wäre mein Leben wohl ganz anders verlaufen und wir säßen jetzt nicht hier. Naja, ich dachte mir, die drei Monate hältst du es schon irgendwie hier aus. Schon wenige Wochen später, im September, brach der Zweite Weltkrieg aus.


Wurden Sie direkt eingezogen?


Julius Herzog:

Nein, ich hatte mich derweil so gut im Betrieb integriert, dass ich zunächst als „unabkömmlich“ eingestuft wurde. Wäre ich nach Cottbus als „Bürokraft“ gegangen, hätten sie mich direkt „gezogen“.


Schlechte Zuganbindungen können also manchmal auch von Vorteil sein ...

 

Julius Herzog:

Ja. In den folgenden eineinhalb Jahren konnte ich dann im genossenschaftlichen Ostheimer Molkereibetrieb richtig gut Fuß fassen, ehe ich dann aber doch zur Militärausbildung (an den großen 15-Zentimeter- Kanonen und als Rechner) nach Thüringen musste. Anschließend kam ich zur Besatzung nach Frankreich an die Kanalküste, wo wir zwischen Calais und Boulogne auf die Engländer warteten. Die kamen aber nicht, so dass mein Trupp in die Normandie verlagert wurde. Dort kam ich nach einer Neuaufstellung der Truppen zu den Sturmgeschützen. Nach einer kurzen Ausbildungszeit ging es für mich dann nach Russland, östlich vom Schwarzen Meer. Dort dauerte es nicht lange, bis die ersten Toten neben mir lagen und ich dachte, Mensch, hättest du doch in Frankreich bleiben können. Nur wenige Tage später erfuhr ich, dass Engländer und Amerikaner, nicht über den Seeweg, sondern über Land, von hinten unsere Stellung in der Normandie schwer geschlagen hatten und über 1000 Tote zu beklagen waren. Insofern hatte ich Glück, zu diesem Zeitpunkt schon in Russland gewesen zu sein.


Wie ging es für Sie nach dem Kriegsende weiter?


Julius Herzog:

Bei Kriegsende war ich mit meinem Trupp gerade in Rumänien stationiert, an dessen Ostgrenze ich dann in russische Gefangenschaft kam und via Schwarzes Meer in den Kaukasus gebracht wurde. Dort gehörte ich einer Krankentruppe an und plötzlich hieß es, dass die Gruppe nach Hause könne. Die dazugehörigen Namen waren auf einem Holzbrett notiert, das sich im Lager befand. Als dann die Namen verlesen wurden, fehlte plötzlich meiner. Ein anderer, gesunder, hatte ihn weggekratzt und seinen Namen darauf geschrieben. Zum Glück war die zuständige Ärztin aufmerksam und ließ ihr eigenes Holzbrett zum Abgleich holen, worauf sich glücklicherweise mein Name befand. Dieser Ärztin hatte ich es zu verdanken, dass ich schon nach einem halben Jahr Gefangenschaft per Güterzug wieder zurückkommen konnte. Die Fahrt von Russland hierher war lang und beschwerlich, immer wieder ging während der Fahrt die Tür auf und Tote wurden hinausgeworfen. Mit knapp 50 Kilo und so klapprig wie heute mit 100, kam ich hier an. Nach drei Wochen Fieberbett bei Verwandten in Oppershofen erholte ich mich dann aber schnell und hatte mit 26 Jahren sowohl Militärdienst, Krieg (inklusive drei gefallener Brüder) als auch Gefangenschaft weggesteckt und konnte ein erfolgreiches Berufsleben folgen lassen. Ja, um 100 zu werden, muss man ab und zu auch Glück haben. Und das hatte ich. Mehrere Male. Dafür bin ich sehr dankbar, vielen anderen war das nicht vergönnt.


Wie verlief dann Ihr weiterer beruflicher Weg in der Molkerei?


Julius Herzog:

Ich habe mich Stück für Stück hochgearbeitet. Dazu habe ich mich schon im Folgejahr zum Meisterlehrgang an der Molkereischule in Oldenburg angemeldet und dort über ein Dreivierteljahr hinweg meinen Meister gemacht. Dadurch erwarb ich die Qualifikation, einen Molkereibetrieb kaufmännisch und technisch führen zu können. Wieder zurück in Ostheim, konnte ich mit meinem frischen Wissen, einiges in Richtung Modernisierung des Betriebes umsetzen.


Wo haben Sie zu der Zeit gelebt?


Julius Herzog:

In einer Dienstwohnung auf dem Gelände, gemeinsam mit meiner Frau, die ich schon 1940 in der Molkerei kennenlernte. Sie war damals dort Lehrmädchen. 1945 haben wir geheiratet und im vergangenen Januar Kronjuwelenhochzeit gefeiert, sind also 75 Jahre verheiratet. 1958 haben wir dann gegenüber dem Firmengelände dieses Haus gebaut.

 

Zu der Zeit waren Sie schon Geschäftsführer der Molkerei, nicht wahr?


Julius Herzog:

Ja. Als 1954 die ältere Geschäftsführergeneration abtrat, übertrug man mir – mit 35 Jahren – dann schließlich offiziell die Leitung des Betriebes. Neu war dann vor allem die federführende Verantwortung für die Mitarbeiter des Betriebes, aber auch für die 2000 Bauern bzw. „Genossen“ aus der Region (und deren Familien), die zu der Zeit ihre Milch in Kannen und Kutschen zu uns brachten. Später geschah dies dann per Sammelwagen oder Traktoren mit Hängern, die die Milch gebündelt aus den verschiedenen Ortschaften zu uns brachten. Extrem wichtig war mir als neuer Geschäftsführer, zu allen ein gutes Vertrauensverhältnis aufzubauen, was mir auch ganz gut gelang, denke ich. Ich konnte den Bauern z.B. vermitteln, warum es auch mal wichtig war, überschüssige Gewinne nicht auszuschütten, sondern leihweise für zwei Jahre einzubehalten, um dieses Geld in die Zukunft des Betriebes zu investieren. In die Technik, in die Hygiene, in Impfsysteme, in die Weiterentwicklung der Produktverarbeitung. Hier in Ostheim haben wir z.B. hessenweit den ersten „Tetrapack“ (damals „Blockpack“) eingeführt. Solche Neuerungen muss man genossenschaftlichen Bauern erst einmal vermitteln, da galt es, dicke Bretter zu bohren. Umso wichtiger war es dann, Wort zu halten und zu zeigen, dass sich Modernisierungen auch für die Milchbauern – in Form von stabilen Preisen – auszahlen. Meist konnte ich das vorläufig einbehaltene Geld schon nach einem Jahr wieder frei- bzw. zurückgeben, weil sich die Investitionen längst gerechnet hatten. Ich will mich ja nicht selbst beweihräuchern, aber ich denke schon, dass ich aus dieser alten Klitsche (wie sie sich 1939 darstellte) Stück für Stück einen für die gesamte Region wichtigen, technisch modernen, genossenschaftlichen Molkereibetrieb gemacht habe. Mit dem letzten Anbau war diese grundlegende Modernisierung dann 1960 erst einmal abgeschlossen.


Hatten Sie zwischendurch auch mal Freizeit oder Urlaub?


Julius Herzog:

Zu Beginn wenig. Dann aber hatte ich mir mein Büroteam so gut gefordert und gefördert, dass ich auch mal 14 Tage weg sein konnte und der Laden trotzdem gut lief. Ansonsten war der Garten mein Hobby. Diese Birken da draußen habe ich übrigens Ende der 50er als kleinen Busch – nach Rücksprache mit dem Förster – selbst mit der Schippe im Wald ausgegraben. Schauen Sie sich sie heute an, die sind 30 Meter hoch.


In den Siebzigern mussten viele kleinere Molkereien aufgeben, Sie haben für Ostheim zunächst aber noch eine Übergangslösung gefunden, nicht wahr?


Julius Herzog:

Stimmt. 1976 schlossen wir uns mit der Wetzlarer Molkereigenossenschaft zur „Milchversorgung Lahn-Dill-Wetter“ zusammen, mit etwa 140 Mitarbeitern und zwei gleichberechtigten Geschäftsführern. Wir haben schweren Herzens das Gelände hier aufgegeben, dafür konnte jeder, der wollte, dann dort in Wetzlar arbeiten und wurde sogar mit einem eigens angeschafften Kleinbus dort hin und wieder zurückgebracht. Auch ich habe die letzten sechs Jahre meines Arbeitslebens in Wetzlar gearbeitet, dort, wo heute der Globus-Baumarkt steht. Als mein zwei Jahre älterer Geschäftsführerkollege dann 1982 in Pension ging, habe ich mich kurzerhand dazu entschlossen, auch meinen Hut zu nehmen, um der neuen, schon in den Startlöchern befindlichen Geschäftsführer- Generation, das Feld zu überlassen. Seitdem drücke ich mich hier zu Hause rum (lacht).


Erinnern Sie sich noch an Ihren Ausstieg damals?


Julius Herzog:

Ja, natürlich. Zur Verabschiedung kam damals sogar der Landwirtschaftsminister. Toll war, dass mich mein Sohn Jürgen vom Fleck weg eingepackt hat, um mit mir, nur mit Minimalgepäck im VW Golf, nach Portugal zu reisen, damit erst gar keine Wehmut aufkommen konnte. Das war eine ganz rustikale Reise, wir haben oft im Auto geschlafen (lacht). Es sollten noch viele weitere Touren durch ganz Europa folgen, meist einmal im Jahr für zirka zehn Tage. Einmal war ich sogar für sechs Wochen in Chile, als mein Sohn dort eine Zeitlang lebte. Die Tatsache, dass ich, bis ich 92 war, noch Auto fahren konnte, bot mir viele Freiheiten, die ich auch ausnutzte. Als ich es dann aufgeben musste, hatte ich doch ein wenig zu kämpfen. Aber nur nach Gehör zu fahren, ist nicht wirklich sinnvoll (lacht).


Haben Sie heute noch einen Blick auf die aktuelle Situation der Milchbauern?


Julius Herzog:

Heute gibt es ja so gut wie keine Milchbauern im Haupterwerb mehr. Früher war das monatliche Milchgeld existenziell wichtig für das tägliche (Über)-Leben der bäuerlichen Familien, da die anderen landwirtschaftlichen Einkünfte ja saisonal bzw. von der Ernte abhängig waren. Heute ist die Milchproduktion maximal industrialisiert und zentralisiert. Die Milch von hier fließt nun nicht mehr nach Wetzlar, sondern zur Weiterverwertung in die Eifel. Mir ist bewusst, dass meine Arbeit damals den jungen Menschen von heute kaum zu vermitteln ist. Ich bin ein Mann der Vergangenheit.


Es fehlt noch die Frage, wie Sie Ihren 100. Geburtstag gefeiert haben. Davon gelaufen sind Sie nicht wie der Romanheld von Jonas Jonas- son ...


Julius Herzog:

Ich habe zwei Tage zuvor eine kleine Anzeige aufgegeben in der stand, dass alle, die das Bedürfnis haben, mir zu gratulieren, an diesem Tag in der Gaststätte „Zur Haltestelle“ herzlich willkommen sind. Ich habe dem Wirt gesagt, dass es schwer einzuschätzen ist, wie viele kommen, immerhin sind die meisten meiner Bekannten ja bereits tot. Die Vorgabe war aber, dass jeder was zu kauen und was zu schlucken bekommt (lacht). Ich hatte mit vielleicht etwa 20 bis 30 Leuten gerechnet, am Ende waren es dann über 60.


Wenn ich mir einen Traum erfüllen könnte, dann ...


Julius Herzog:

 ... wünsche ich mir, dass ich meinen Verstand noch behalte, solange ich lebe. Ich höre und sehe schlecht und bin auch zu Fuß nicht mehr so gut beieinander. Um dies zumindest etwas aufzufangen, gibt es technische Hilfsmittel, für den Verstand nicht. Auch so ein Interview strengt mich an und ich merke, dass mein Kopf warm wird und meine Augen brennen. Nichts ist selbstverständlich, wenn man 100 ist. Ich bin dankbar dafür, wie es ist und wenn es noch eine Zeitlang so bliebe.


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Ich bedanke mich bei Julius Herzog, der mir über 80 Minuten lang strukturiert und voller Energie aus seinem Leben erzählt hat. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass man damit drei dieser Zeitungsseiten hätte füllen können.

Obwohl er müde ist, lässt er es sich aber nicht nehmen, mir beim Abschied noch kurz seinen schwedischen Spezial- Rollator vorzuführen und dreht damit begeistert eine Runde durch den Hausflur. „Das ist mein neuer Mercedes“, lacht er stolz. Anschließend bin ich es, der begeistert das Haus des Hundertjährigen verlässt, also im wörtlichen Sinne: voller Geist, ob der eben erlebten Begegnung.

Martin Guth


* ehemaliger Geschäftsführer der

Molkereigenossenschaft Ostheim-Nieder Weisel

Milchversorgung Lahn-Dill-Wetter

milchquell Wetzlar-Giessen